Eigentlich wollte sie Pianistin werden. Jetzt setzt Ute Klammer als Wissenschaftlerin Maßstäbe. Porträt einer unermüdlichen Frau. Von Katrin Koster

Wenn die Sonne langsam zum Horizont wandert und der Duisburger Campus still wird, beginnt oben im 5. Stock des LE-Gebäudes für Prof. Dr. Ute Klammer der zweite Teil des Arbeitstages. Die Zeit, in der sich die Forscherin in Sitzungs- oder Aufsichtsratsunterlagen vertieft und Forschungsideen entwickelt. Kürzlich ist sie als Direktorin des IAQ (Institut Arbeit und Qualifikation) für weitere sechs Jahre wiedergewählt worden. Eine vielschichtige Aufgabe – eine von über zehn, die privaten nicht mitgezählt.

Ute Klammer ist seit 2007 Professorin für Sozialpolitik an der UDE. Sie sitzt im Vorstand der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt und im Aufsichtsrat von Vallourec Deutschland, einem Stahlrohrhersteller. Hinzu kommen diverse Mitgliedschaften in Gremien und Beiräten, etwa als Vertrauensdozentin der Hans-Böckler-Stiftung. Und nicht zu vergessen: Seit Mai 2021 ist sie Direktorin des Deutschen Instituts für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS), seit Januar 2022 steht sie an der Spitze des Sozialbeirats der Bundesregierung – als erste Frau in diesem politikberatenden Gremium, das noch unter Adenauer entstand. Wahrlich eine Menge – der Großteil davon ehrenamtlich.

In Berlin hatte Ute Klammer schon vorher viel zu tun: So wirkte sie, berufen durch Kanzlerin Merkel, im Rat für nachhaltige Entwicklung mit (2008–2010) und leitete die Sachverständigenkommission für den Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2008–2011). Wissenschaftliche Politikberatung ist denn auch ein roter Faden, der sich durch viele ihrer Ämter zieht. „Wissenschaft hat eine hohe gesellschaftliche Verantwortung und soll Nutzen bringen; schließlich werden wir aus Steuergeldern bezahlt. Es ist für mich selbstverständlich, Brücken zwischen Politik, Wirtschaft und Forschung zu bauen“, erklärt Klammer schnörkellos.

Gesellschaftlich relevante Fragen stehen im Fokus: Im IAQ und in interdisziplinären Netzwerken untersucht sie, wie sich Beruf und Familie besser vereinen lassen und was Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt ausmachen. Klammer weiß, wie Altersarmut entsteht, und kennt Perspektiven für Hochqualifizierte, die nach Deutschland migrieren. Die europäische Sozialpolitik kann die Professorin laienverständlich vergleichen. Was sie zu einer begehrten Gesprächspartnerin der Medien macht.

Pflegerin mit dem Ingenieur gleichsetzen

Gerade wird ein neues Messinstrument für den Gender Pay Gap diskutiert: der Comparable Worth Index, den Klammer gemeinsam mit Dr. Christina Klenner und Sarah Lillemeier entwickelte.

„Er dokumentiert wie ein Thermometer, wie Arbeit bewertet und bezahlt wird, mit Blick auf die Geschlechter. Demnach wäre ein fairer Lohn für eine Pflegekraft mit abgeschlossener Ausbildung vergleichbar mit dem, was heute ein Ingenieur bei uns erhält.“ Allein dieses Beispiel verdeutlicht, wie viel ihre Arbeit mit unserem Alltag zu tun hat.

Während sich der Himmel draußen so tiefblau färbt wie drinnen auf einem Bild des Ruhrgebiets, zieht die Wissenschaftlerin ein Buch aus dem raumfüllenden Schrank: „Gleichstellungspolitik an Hochschulen“ – eines von 15, das sie gemeinsam mit anderen geschrieben hat. „Obwohl es inzwischen etliche Instrumente gibt, ist Gleichstellung noch nicht erreicht. So ermittelte der Gender-Report NRW zuletzt, dass alle W3-Professorinnen, die hierzulande Leistungsbezüge erhalten, monatlich durchschnittlich 601 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen bekommen.“

Klammer will dazu beitragen, dass sich das endlich ändert, und zugleich Orientierung im „Gleichstellungsdschungel“ bieten.

„Wir sollten unser Verständnis von guter, von exzellenter Wissenschaft hinterfragen – und uns so aufstellen, dass keine Talente verloren gehen“, empfiehlt sie mit ruhiger Stimme. Damit es irgendwann die geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Hochschule wirklich gibt.

Wie so ein Unidampfer manövriert, das weiß Klammer genau: Von 2008 bis 2015 war sie Prorektorin für Diversity Management und Internationales an der UDE. Um die Bildungsgerechtigkeit zu verbessern, initiierte sie schon damals Programme für Studierende aus Nichtakademikerfamilien oder für hochqualifizierte Migrant:innen.

Umtriebig, taff und – wenn es sein muss – kämpferisch: Ute Klammer. | © Foto: Frank Preuß
»Wir verplempern unsere Energie, wenn wir nur gucken, wofür gerade Geld da ist, und danach unsere Themen setzen.«

Wer ihr zuhört, spürt ihre Gerechtigkeitsliebe und dass ihr alles, was sie anpackt, wichtig ist. Ob Vorstandssitzung oder Jour Fixe – sie möchte „sich ordentlich vorbereiten, um die richtigen Fragen zu stellen“. In den Projekt-Videokonferenzen will sie wissen, was in den einzelnen Vorhaben ansteht, und das nicht nur einmal im Monat, sondern zum Teil wöchentlich. Und Forschungsprojekte leitet sie einige.

Trotz aller Begeisterung gibt es Schatten: So wurmt Klammer, dass die Politik teilweise Beiräte zu denselben Themen beauftragt und sich nicht abstimmt. Und dass manche Ergebnisse hochgelobt werden – um gleich darauf in der Schublade zu verschwinden. Kritisch sieht sie auch die viele Zeit, die in Drittmittelanträge fließt. „Als frühere Leistungsschwimmerin verstehe ich alle, die wettbewerbsorientiert sind, doch wir verplempern unsere Energie, wenn wir nur gucken, wofür gerade Geld da ist, und danach unsere Themen setzen.“

Wann geht eigentlich das Licht in ihrem Büro aus? Meist vor Mitternacht. Dann wechselt die 59-Jährige einfach in ihre Essener Wohnung, schreibt hier weiter E-Mails und bereitet den nächsten Tag vor. Allein ist sie dabei nicht: „Ich bin oft erschrocken, wer mir alles direkt antwortet, wenn ich nachts um eins oder zwei eine E-Mail schicke“, gibt sie offen zu. „Das virtuelle Arbeiten hat einiges vereinfacht. Über Webkonferenzen kann ich an einem Tag leichter an mehreren Sitzungen teilnehmen – das war früher anders, da saß ich für zweistündige Treffen in Berlin acht Stunden im Zug, vier hin, vier zurück.“

In Berlin traf sie auch mal Prinz Charles, erzählte ihm von der UDE. Und mit Cat Stevens fachsimpelte sie über „Morning has broken“. Klammer begegnet oft Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft – ihr Herz indes, das berühren andere: ihre Stipendiat:innen. „Diese persönlichen Wege beeindrucken mich immer wieder. So kam eine junge Frau aus einem konservativen muslimischen Umfeld, das sie rein als Ehefrau und Mutter sah – heute ist sie erfolgreiche Mathematikerin. Wir treffen uns regelmäßig, darauf freue ich mich immer sehr.“ Respektvoll spricht sie auch von einem Jugendlichen, der 2016 aus Afrika flüchtete, ohne ein Wort Deutsch zu können: „Er hat Abi gemacht, studiert jetzt bei uns Politikwissenschaften – und will damit etwas für sein Land und die Welt tun. Von diesen Menschen können wir viel lernen.“

Erste Akademikerin der Familie

Die taffe Professorin ist selbst die erste ihrer Familie, die studierte. Ihre Mutter besuchte die höhere Handelsschule, der Vater war Bankangestellter. Beide förderten sie auf ihrem akademischen Weg.

„Dabei wollte ich anfangs lieber Musik studieren“, erinnert sich Klammer an ihre Schulzeit in Hürth. „Doch für eine Karriere als Pianistin reichte es nicht.“ So studierte sie nach ihrem Abi mit 1,0 Germanistik, Philosophie und Pädagogik an der Universität Köln, begann hier bald ein zweites Studium – Volkswirtschaftslehre, mit dem Wahlfach Politik. Beide hat sie erfolgreich abgeschlossen: mit 1,0 und 1,6. Ihre Promotion in VWL krönte 1995 ein Summa cum laude.

Gewissenhaft und ehrgeizig ist sie. Wände versetzen zu müssen, spornt sie an. Und die Lust, immer wieder Neues zu erkunden. Etwa auf Konferenzen. Eine – in Kasachstan – blieb besonders in Erinnerung: „Ein Minister und ich waren die ranghöchsten Personen und zum Abschluss wurde ein Hammel gebraten. Als außerordentliche Ehre überreichte mir der Minister die Augen, das Edelste am ganzen Tier. Auf Deutsch fragte ich den Dolmetscher, wie ich aus der Situation wieder herauskäme, denn für mich war es unvorstellbar, diese zu essen. Er gab mir den Tipp, die Geste dankend zu erwidern und zu betonen, dass diese Ehre dem Minister gebühre. Das habe ich gemacht und bekam das Zweitbeste vom Hammel – die Bäckchen.“

Ein Kreuz für ihr Engagement

Sicher eine Geschichte, die sie schmunzelnd ihren beiden Stieftöchtern und ihren drei Enkeln erzählt. Wobei die es vermutlich auch mögen, dass Ute Klammer die Musik trotz allem nie aufgegeben hat: Sie spielt Klavier, Saxophon und Geige, letztere im Uniorchester. Jede Woche nimmt sich die unermüdliche Wissenschaftlerin Zeit für die Proben, zieht daraus neue Energie. „Hier kommt es, genauso wie in der Forschung, darauf an, zusammen etwas Gutes zu bewirken. Alle versuchen, Bestleistungen zu erbringen.“

Ihre wurden 2019 deutschlandweit gewürdigt – als Bundesfamilienministerin Franziska Giffey ihr das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse überreichte. „Das war eine tolle Feier mit über 60 Wegbegleiter:innen, die mich sehr berührt hat.“

Gibt es etwas, womit sie sich gar nicht auskennt? „Ja, natürlich. Wenn ich etwa mit Kolleginnen und Kollegen aus der E-Technik oder der Mathematik spreche, kann ich ihnen zwar Tipps geben, wie sie Genderaspekte in ihre Anträge einbinden, doch ich habe absolut keine Ahnung, was sie fachlich machen.“ Dabei beschäftigen sie täglich statistische Zahlen – und neuerdings ganz praktische Berechnungen. Denn an den Wochenenden hantiert Klammer mit Rigipsplatten und Bohrmaschine, baut sich eine Gartenhütte aus. Und macht schon Pläne fürs nächste Leben: „Dann werde ich Handwerkerin.“