Der teuerste Fluss der Welt
Einst war die Emscher ein toter Fluss, jetzt gilt sie als blaues Wunder. Wie sich ihr Ökosystem erholt und weltweit als Vorbild dienen kann, untersucht die UDE in vielbeachteten Projekten. Von Jennifer Meina
Glasklar ist das Wasser nicht – hier in Gladbeck, wo der Haarbach auf die 13 Kilometer lange Boye trifft. Trotz des sonnigen Morgens wirkt der zweitlängste Nebenfluss der Emscher ein wenig trüb. Dennoch sieht man immer wieder kleine Krabbeltiere, die elegant an den Gummistiefeln von Dr. Daniel Grabner entlanggleiten. Das Zirpen und Rascheln vom Ufer, zwischen Gräsern und Steinen im schlammigen Untergrund, lässt erahnen, dass es noch viel mehr Bewohner gibt. Und auch die Menschen, die sich gerade mit ihrem Rad oder ihrem Hund hier aufhalten, genießen offensichtlich die Natur. Das Leben ist zurück an der Emscher und ihren Nebenflüssen. Also doch eine kleine grüne Oase?
Noch nicht ganz, immerhin ist an dieser Stelle die Renaturierung, also die naturnahe Umgestaltung des Gewässers und seines Ufers, erst knapp ein Jahr her. Aber: „Der aktuelle Zustand war lange völlig unvorstellbar“, erklärt Grabner. Der Biologe ist zugleich wissenschaftlicher Koordinator des Sonderforschungsbereichs RESIST und schaut zusammen mit seinem Team gerade nach dem zentralen Freilandversuch des Projekts: einer großen, zweistöckigen Anlage, deren Kernelemente unzählige Schläuche, Fässer, Schalen und jede Menge Wasser sind. Der Aufbau gehört zum Projekt ExStream von Prof. Dr. Florian Leese (Aquatische Ökosystemforschung). Zahlreiche RESIST-Teilprojekte gewinnen hier ihre notwendigen Proben. Das zentrale Ziel der Forschenden dabei: herauszufinden, wie Gewässer und ihre Lebensräume auf die vielen menschengemachten Belastungen des Flusses reagieren – und wie ein Weg zurück zum natürlichen Fluss funktionieren kann. Auf die Erkenntnisse ist auch die internationale Fachwelt gespannt.
Grabner nimmt einen tiefen Atemzug. Es riecht – neutral. Ganz im Gegensatz zu dem, was die Menschen an gleicher Stelle noch vor wenigen Jahrzehnten rochen. „Köttelbecke“, „Latrine“, „Pissrinne“ – es waren keine schmeichelhaften Namen, mit denen die Anwohner:innen ihre Emscher bedachten, die sich mit ihrer Länge von rund 83 Kilometern beinahe durch das gesamte Ruhrgebiet schlängelt. Es war aber auch nicht schmeichelhaft, was das Gewässer und seine Nebenflüsse aufnehmen mussten.
Abwasserlösung
Ein Blick zurück – zum Ende des 19. Jahrhunderts. Das Ruhrgebiet steckt mitten in der Industrialisierung. Stahl und Kohle sind wichtige Treiber der Wirtschaft, immer mehr Menschen strömen zum Arbeiten und Leben ins Revier. Doch wohin mit dem Abwasser? Unterirdische Kanäle sind unmöglich, da es durch die Arbeit unter Tage immer wieder zu Absenkungen der Erde kommt. Das Abwasser muss also oberhalb abgeführt werden. In den Fluss? Doch dieser tritt immer wieder über die Ufer. Das Schmutzwasser überschwemmt die Städte – und damit breiten sich auch Krankheiten wie Typhus oder Cholera aus. Die einzige Lösung: Die Emscher muss selbst zum Abwasserkanal umgebaut, das heißt, auch mit Betonwannen begradigt werden. Ab 1899 fließen nun offiziell Fäkalien aus den Haushalten, aber auch giftige Chemikalien aus der Industrie in den einst naturnahen Lauf – mitten in Deutschland. „Es gab so gut wie kein Leben mehr im Wasser außer einigen Bakterien“, so Grabner.
„Wir wollen mit MERLIN einen Beitrag leisten, um künftig nachhaltiger mit unseren Gewässern umzugehen“
Bis vor gut 30 Jahren. 1991 beschloss die Emschergenossenschaft gemeinsam mit ihren Mitgliedern – Kommunen, Industrie, Gewerbe und Bergbau – sowie dem Land Nordrhein-Westfalen, die Emscher wieder zu einem gesunden Gewässersystem zurückzuentwickeln. Vorbilder in dieser Größenordnung gab es nicht, Pionierarbeit war für die Emschergenossenschaft gefragt, die sowohl für die Planung als auch für die Umsetzung verantwortlich zeichnete – und das erfolgreich. Der Emscherumbau ist ein Vorzeigeprojekt und macht den kleinen Strom zum teuersten Fluss der Welt. Drei Jahrzehnte und etwa 5,5 Milliarden Euro später ist das Projekt weitgehend abgeschlossen – der Fluss und nahezu all seine 35 Nebenläufe sind seit Ende 2021 wieder abwasserfrei. Nicht nur für die Menschen ein Meilenstein. Die Zahl der heimischen Arten hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht.
RESIST
Der Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wird von Prof. Dr. Bernd Sures und Dr. Daniel Grabner koordiniert. In der ersten (von möglichen drei) Förderperioden (2021 bis 2024) fließen 12,3 Millionen Euro in das Projekt. Neben der UDE sind Teams der Universitäten Bochum, Köln, Kiel und Koblenz-Landau sowie des Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (Berlin) und des Umweltforschungszentrums Halle-Leipzig beteiligt. Zwanzig wissenschaftliche Teilprojekte laufen unter dem Dach von RESIST mit dem Ziel, die Einzelergebnisse zusammenzuführen und übergreifende Modelle und Hypothesen zu erstellen.
Weitere Informationen:
sfb-resist.de
Daniel Grabner an der Boye im Video:
udue.de/emscherprojekte
Freiluftlabor
Von wichtigen Viren, Kleinkrebsen, zahlreichen Fliegenarten bis hin zu Fischen: Die Biodiversität, die innerhalb so kurzer Zeit zurückgekehrt ist, sei schon beeindruckend, sagt Grabner. Er steht in seiner Wathose bis zu den Knien im Fluss und holt mit einem Sieb gerade zahlreiche Flussbewohner aus dem Wasser. Aber auch wenn theoretisch alles getan wurde für eine Renaturierung, ökologisch gesehen ist der Fluss immer noch nicht so, wie er sein soll. „Es genügt leider nicht, das Abwasser herauszuhalten, die Betonschalen zu entfernen, einen kurvenreicheren Verlauf zu planen, die Böschungen flacher und vielseitiger zu gestalten, Steine und Totholz zu verlegen – und alles ist so, als wäre hier nie Abwasser geflossen.“ Doch warum nicht? Antworten sollen dem Team in den kommenden Jahren auch die sogenannten Mesokosmen-Experimente liefern. Diese Plastikschalen, die ein wenig an große Gugelhupfformen erinnern, bilden künstliche Mini-Ökosysteme nach. Ihnen werden verschiedene Stressoren hinzugefügt, also Faktoren, die Organismen negativ beeinflussen.
Grabner zeigt auf die langen Schläuche, die von der Boye hoch zur Anlage führen. „Wir leiten das Flusswasser in die 64 Schalen, in die wir zuvor Organismen einbringen. Nun können wir gezielt Salz oder warmes Wasser einführen und auch die Fließgeschwindigkeit verändern. Im Anschluss untersuchen wir im Labor die Wirkungen solcher Stressoren auf die Organismen.“ Diese nachgestellten Szenarien sind typische Umweltbelastungen, wie sie der Mensch verursacht: etwa durch die konventionelle Landwirtschaft, die Klimaerwärmung, durch übergelaufenes Gruben- oder eingeleitetes Kühlwasser aus der Industrie sowie durch Wasserkraftwerke, die die Strömungsgeschwindigkeit verändern.
Die Wissenschaftler:innen untersuchen, wie die drei Stressoren einzeln und auch zusammen auf verschiedenen Ebenen wirken: Sie schauen auf das Nahrungsnetz oder auf ökosystematische Funktionen, etwa den Abbau von Falllaub und die Nährstoffzyklen. Die Boye bietet dafür hervorragende Bedingungen: „Es gibt einige Bereiche, die nur wenig strukturell umgewandelt wurden, aber viele, die deutlich verändert wurden und jetzt renaturiert sind – teils seit langer Zeit, teils ganz frisch. Wir können hier jede Menge Stellen vergleichen, die verschiedene Charakteristiken aufweisen, und sehen die unterschiedlichen Entwicklungen bei der Gewässerrenaturierung.“ Das ist besonders interessant für ein weiteres RESIST-Teilprojekt: Dabei nehmen die Forschenden jährlich Proben von Organismen in den einzelnen Boye-Gewässern, um Unterschiede zwischen den verschiedenen renaturierten Standorten herauszufinden.
Ein weiterer zentraler Punkt der Forschung, die noch bis mindestens 2024 laufen wird: Es sollen auch Modelle entwickelt werden, um vorherzusagen, was passiert, wenn man einen Fluss auf bestimmte Weise renaturiert. Die Emscher soll Vorbild für Flüsse in ganz Europa werden – und genau hier setzt das zweite große Wasserprojekt der UDE an: MERLIN.
Perfektes Zusammenspiel
Ortswechsel. Es geht einige Kilometer flussabwärts. Hier befindet sich die neue Emscher-Aue im Holtener Bruch in Oberhausen – zumindest künftig. Noch ist die Emscher hier ein enger Kanal. Bald soll sie wachsen, Platz bekommen, wieder ein richtiger Fluss werden – samt Auenlandschaft. Vögel sollen sich ansiedeln, ebenso wie Insekten, Reptilien, Amphibien. Und es wird ein wichtiger Ort für den Hochwasserschutz. Denn der Fluss wird hier bei Starkregen zwar deutlich über seine Ufer treten, die Wiese nimmt das Wasser aber auf und verhindert Überschwemmungen an anderer Stelle. Feuchtgebiete können Kohlendioxid im Boden speichern. Grüne Ökosysteme bieten darüber hinaus Naherholungsräume, die sowohl in dichtbesiedelten wie auch in landwirtschaftlich geprägten Regionen von den Menschen wertgeschätzt werden. „Es wird ein perfektes Zusammenspiel zwischen dem, was die Natur braucht, und den Belangen der Menschen“, erklärt Dr. Sebastian Birk. Er ist ebenfalls Aquatischer Ökologe an der UDE – und Koordinator des EU-geförderten Projekts.
Erst im Oktober 2021 startete MERLIN und wird mindestens bis September 2025 laufen. In den vier Jahren haben die Wissenschaftler:innen und Partner aus ganz Europa viel zu tun. 17 Fallstudien von Finnland bis Israel sind auszuwerten. Und so unterschiedlich sie auch sind – von Biberstauseen in Skandinavien, Mooren in Schottland bis Donau-Auen in Rumänien –, so eint sie eins: die Akzeptanz für Renaturierungsprojekte in der Gesellschaft, aber vor allem auch in der Wirtschaft und Politik zu erhöhen. Denn nicht überall steht Renaturierung ganz oben – oder überhaupt – auf der Agenda. Und es gibt deutliche Unterschiede: Während in Westeuropa Projekte dazu meist vom Staat oder offiziellen Körperschaften ausgehen und gefördert werden, liegen sie in Osteuropa fast ausschließlich in der Hand von Nichtregierungsorganisationen wie der Umweltschutzorganisation WWF.
MERLIN
Das von der EU im Rahmen des „Grünen Deals“ mit 21 Millionen Euro geförderte Projekt MERLIN läuft bis September 2025 und wird von Prof. Dr. Daniel Hering und Dr. Sebastian Birk koordiniert. Beteiligt sind 45 Partner aus ganz Europa, darunter Universitäten, Forschungsinstitute, Naturschutzorganisationen, Wasserverbände sowie Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Kommunen. Die Hälfte der Projektmittel geht in konkrete Renaturierungsvorhaben der 17 Fallstudien.
Weitere Informationen:
project-merlin.eu
Europaweite Probleme
„Wir wollen mit MERLIN einen Beitrag leisten, um künftig nachhaltiger mit unseren Gewässern umzugehen“, sagt Birk. Der Plan: Mit guten Vorbildern zeigen, dass Renaturierung nicht nur für Pflanzen und Tiere wichtig ist, sondern auch für unseren Wohlstand, unsere Gesundheit und den gesellschaftlichen Frieden. Denn überall in Europa bestehen ähnliche Probleme: Flutkatastrophen bedrohen Menschenleben oder zerstören die Infrastruktur – das bringt unermessliches Leid für die Betroffenen und kostet Versicherungen Millionen. Dürreereignisse schaffen Wassermangel und führen zu Trinkwasserknappheit und großräumigen Ernteeinbußen.
An der Emscher bedeutet das konkret, dass dank MERLIN ihr Gewässerumfeld weiter aufgewertet wird. Vor allem Blühwiesen sollen angelegt und nachhaltig genutzt werden. Dies erfordert eine effiziente Bewirtschaftung und Nutzung des Mahdgutes. „Der Emscherumbau ist ein weltweit führendes Beispiel für gelungene Renaturierung – und eines mit den schwierigsten Startbedingungen“, sagt Birk. Wenn man also selbst die einst tote Emscher wiederbeleben kann, kann man das überall? Ja, so ist die Überlegung.
Denn die diversen Fallstudien sind nur der Anfang, wenn auch die wichtige Basis: MERLIN bringt umfangreiches Renaturierungswissen aus den Regionen in Europa zusammen, in denen derzeit Bäche, Flüsse, Auen, Moore und Feuchtgebiete in einen naturnahen Zustand zurückgeführt werden. Probleme werden aufgezeigt ebenso wie die Möglichkeiten, sie zu lösen und übertragbar zu machen.
Naturbasierte Lösungen
Birk fasst seine Aufgabe in drei Fragen zusammen: 1. Wie muss Renaturierung konkret umgesetzt werden, damit sie Erfolg hat unter den jeweiligen Gegebenheiten? 2. Welche gesellschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen fördern diese Umsetzung? Und 3. Wie können relevante Entscheidungsträger in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik für Renaturierung gewonnen werden?
„Renaturierungen bringen nicht nur Libellen zurück, sondern erfüllen weitaus mehr Aufgaben. Das wollen wir sichtbar machen.“
Was nicht funktioniert, hat die Vergangenheit gezeigt: Wortreich zu versichern, dass es auch uns danach besser geht, wenn es der Natur besser geht, genügt nicht. „MERLIN zeigt eine ganze Palette an konkreten Vorschlägen, wie naturbasierte Lösungen Stadt und Landschaft attraktiver machen und was wirtschaftlich sinnvoll ist.“
Neue Wege gehen heißt eben auch, die alten zu überdenken. Die Ziele der EU-Wasserrahmenrichtlinie sollten bis 2015 umgesetzt werden, jetzt sind sie bis 2027 verlängert. „Doch auch dann werden sie wohl nicht erreicht, schlicht, weil sie mit anderen Interessen, wie der Landwirtschaft, kollidieren.“ Was man braucht für Veränderung, ist Wissen – und das liefert MERLIN. Mit diversen Verbänden von Wasserversorgern, Versicherern und der Transportschifffahrt habe man schon einen guten Austausch gehabt.
„Miteinander reden und das Wissen weitergeben, nur so kann es funktionieren.“