Jeder Kopf ist anders
Klopfend, ziehend, stechend: Kopfschmerzen können sehr unterschiedlich sein – fast jede:r hat welche. Am Westdeutschen Kopfschmerzzentrum Essen werden sie erforscht. Ein Einblick in neue Wege.
Von Katrin Koster
Vergangene Woche ein Vortrag bei einer Konferenz in Wien, gleich die Sprechstunde und danach ein neues Onlineseminar über Instagram bewerben: Prof. Dr. Dagny Holle-Lee ist sehr aktiv. Sie gehört bundesweit zu den führenden Migräneforscher:innen und leitet in Essen seit 2014 das Westdeutsche Kopfschmerzzentrum, das größte in Deutschland. Hier werden jährlich rund 4.000 Patient:innen behandelt. „Für manche genügt eine Beratung, andere begleiten wir über Jahre, denn die Beschwerden sind sehr individuell“, sagt Holle-Lee.
Migräne erklären zu wollen, gleicht einem Riesenpuzzle, weil Auslöser, Verlauf und Symptome so verschieden sind. Bestimmte Aspekte sind inzwischen verstanden, aber noch fehlen die Zusammenhänge, was Trigger und was Folge einer Attacke ist.
All das erschwert die Diagnostik: „Es gibt keine Biomarker, wie etwa beim Herzinfarkt. Sowohl von medizinischer als auch von Betroffenenseite werden die Ursachen von Kopfschmerzen oft erst spät diagnostiziert. Viele denken, das gehöre zum Leben nun mal dazu und das müsse man aushalten. Das wollen wir ändern“, sagt die 42-Jährige, die zudem als Oberärztin in der neurologischen Abteilung arbeitet.
Es gibt mehr als 200 Arten von Kopfschmerzen – die beiden häufigsten sind dumpfe, drückende Spannungskopfschmerzen und die eher pochend-pulsierende Migräne. Letztere ist die häufigste und die Lebensqualität relevant beeinträchtigende neurologische Erkrankung. Aktuelle Untersuchungen vom Robert-Koch-Institut gehen davon aus, dass über 28 Prozent aller Frauen und über 18 Prozent aller Männer in Deutschland davon betroffen sind. Meist beginnt sie in der Pubertät, bei manchen auch schon in der Kindheit. Oft kommt die Migräne im Lauf des Lebens immer häufiger, klingt erst im Alter langsam ab.
Bei der chronischen Form treten die Schmerzen an 15 und mehr Tagen im Monat auf, mitunter einhergehend mit Schwindel, Übelkeit oder Sehstörungen. Wer Schmerz- oder Migränemittel zu häufig einnimmt, riskiert, dass die Beschwerden chronisch werden – ein Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt.
»Wenn die Schmerztherapie beginnt, dreht sich ihr Leben wesentlich zum Positiven.«
DREI FRAGEN
Am Kopfschmerzzentrum ist die Diagnostik umfassender als bei Hausärzt:innen, denn hier wirken unterschiedliche Disziplinen zusammen. Drei Fragen helfen, die Symptome neurologisch einzuordnen, um eine passende Therapie zu finden:
Wie lange hält der Kopfschmerz an?
Welche Begleitsymptome gibt es währenddessen?
Verspüren die Betroffenen eher ein Bedürfnis nach Ruhe oder laufen sie unruhig umher?
„Jeden Tag erlebe ich in meiner Sprechstunde, wie stark Kopfschmerzen den Alltag beeinträchtigen. Und wie sehr wir etwas verändern können. Wenn die Schmerztherapie beginnt, dreht sich ihr Leben wesentlich zum Positiven, und genau das ist unser größter Ansporn“, erklärt Holle-Lee, die Arzneimittel immer mit nichtmedikamentösen Maßnahmen kombiniert.
WAS HILFT BEI MIGRÄNE UND KOPFSCHMERZEN?
Ganz klassisch: täglich genug trinken, außerdem vor allem Ausdauersport, Entspannung, Stress in Maßen und die richtige Menge Schlaf – nicht zu viel und nicht zu wenig.
Die klinische Forschung am Kopfschmerzzentrum umfasst verschiedene Aspekte: „Wir untersuchen unter anderem anhand unserer großen Datenbanken, welche Patient:innen von welchen Therapien profitieren.“ Außerdem besteht eine enge Kooperation sowohl im klinischen Bereich als auch in der klinischen Forschung mit Prof. Dr. Ulrike Bingel, die die universitäre Schmerzmedizin leitet. Im Fokus steht hier, welchen Einfluss die Erwartungen von Betroffenen auf die Kopfschmerztherapie haben und ob eine Placebotherapie wirksam sein könnte.
„Ohne intensive nationale und internationale Vernetzung funktioniert Forschung nicht“, macht Holle-Lee deutlich. Auch an der klinisch kontrollierten Studie Prävention des Medikamentenübergebrauchs und Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes mittels einer mobilen Software Applikation, dem größten Projekt des Zentrums, nehmen deutschlandweit 30 Kopfschmerzzentren und spezialisierte neurologische Praxen teil.
Es läuft drei Jahre, mit 2,4 Millionen Euro gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Mittels einer App erfassen die Studienteilnehmer:innen, wie oft sie Schmerzmittel einnehmen. Diese warnt, wenn es zu viele sind, denn das trägt mit dazu bei, dass aus einem episodischen Leiden ein chronisches wird. Knapp 120 Patient:innen sind derzeit beteiligt, weitere werden gesucht.
ZAHLREICHE EXPERIMENTELLE ANSÄTZE
Außerdem soll erforscht werden, ob ein Migränegehirn anders funktioniert: Ein Experiment untersucht z.B., ob Betroffene stärker auf Schwindel auslösende Reize wie das Drehen auf einem Drehstuhl reagieren. Typisch ist, dass Migräne-Patient:innen dabei deutlich schneller schlecht wird und sie sich langsamer erholen als gesunde Menschen.
Ein anderer Versuch schaut auf die Bildverarbeitung des Gehirns, denn Kopfschmerzgeplagte nehmen Licht und schnelle Bildwechsel stärker wahr. Durch elektrophysiologische Diagnostik soll untersucht werden, ob sich diese Überempfindlichkeit des Gehirns objektivieren lässt – das bedeutet zu messen, wie empfindlich jemand ist. Auch ins Blut der Patient:innen wird geschaut. Möglicherweise finden sich hier Veränderungen von Immunzellen, was aktuell in einem Forschungsprojekt der Clinician Scientist Academy der Universitätsmedizin Essen (UMEA) untersucht wird.
„Bislang fehlen leider noch Biomarker, die beweisen, dass jemand unter einer Migräne leidet“, umreißt Holle-Lee diese Forschungsansätze. „Deswegen wird sie von vielen oft nicht als vollwertige organische Erkrankung eingeordnet, was sie aber ist.“
Die Forschungsfragen sind ebenso vielschichtig wie die Faktoren, die Migräne möglicherweise beeinflussen: wie Lebensumstände, Alkoholkonsum oder Hormone. Obwohl inzwischen verbindende Kriterien erkannt wurden, sehen sie bei jedem Menschen anders aus. Ein Kopfschmerztagebuch hilft, Zusammenhänge zu erkennen.
Abschließend betont die Spezialistin, die selbst hin und wieder Kopfschmerzen hat: „Mir ist ganz wichtig hervorzuheben, dass die Betroffenen nicht Schuld sind an ihrer Migräne. Der Hauptfaktor sind nämlich erbliche Zusammenhänge. Menschen kommen schon mit einem Migränegehirn zur Welt, und wir verstehen noch nicht, warum und wie sich die Erkrankung beim Einzelnen entwickelt und bei anderen nicht.“
DAS KOPFSCHMERZZENTRUM
Es ist Teil des universitären Schmerzzentrums und mit niedergelassenen Neurolog:innen, Schmerztherapeut:innen und anderen Kopfschmerzzentren deutschlandweit vernetzt. Hier arbeiten Fachleute aus der Neurologie, Allgemeinmedizin und der Anästhesie zusammen. An der Medizinischen Fakultät liegt ein Fokus auf den Neurowissenschaften.
Titelbild: © Julius Maxim