Start-up: KI auf Rezept
Was Menschen langweilt oder überfordert, übernimmt sie: Künstliche Intelligenz (KI) kann zum Metronom des Mittelstands werden, wenn es nach dem UDE-Spin-off TamedAI geht. Von Birte Vierjahn
„Leute in der Forschung sind begeisterungsfähig, engagiert und legen gleich los. In der harten Wirtschaft fragt erstmal jemand, ob sich das rechnet. Wir leben dazwischen.“
Das sagt Ole Meyer, Doktorand am UDE-Lehrstuhl für Software Engineering. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit dem Transfer von KI aus der akademischen Welt in die Praxis. Gemeinsam mit seinem Mit-Doktoranden Nils Schwenzfeier gründete er 2019 das Spin-off „TamedAI“, zu Deutsch etwa „Gezähmte Künstliche Intelligenz“. Meyer erklärt: „Wir wollen die krasse Forschung und den Mittelstand zusammenbringen.“
Damit füllen sie eine deutsche Lücke: „Wir haben durchaus innovative Unternehmen im Land, aber im KI-Sektor hat die Musik in den vergangenen Jahren in den USA gespielt, und wir haben geschlafen. Das ganze Cloud-Geschäft hat Deutschland so verpasst, aber in der KI geht noch was.“
Vier vordefinierte Themenfelder bietet das Unternehmen an: Sprachtechnologie, Sport, Bankwesen/Versicherungen, Medizin – und einen Joker, versehen mit einem subtilen Raketensymbol: Welches Thema ein Kunde auch immer mitbringt, die beiden Gründer versprechen „hochspezialisierte Lösungen, die wirklich einen Unterschied machen“.
Algorithmen mit Sprachgefühl
Ein weiterer Schwerpunkt des jungen Start-ups ist die Sprach- technologie: KI-Systeme, die Texte lesen, ihren Inhalt erfassen und darauf aufbauend Überschriften oder kleine Zusammenfassungen anfertigen – oder menschlichen Redaktionsmitgliedern deren sprachliche Schnitzer aufzeigen. Mehr Informationen: campusreport.online
Bitte Füße ergänzen!
Speziell sind die Anfragen tatsächlich. Zum Beispiel wollen Fußballvereine aus den Amateur- und Profiligen die Bewegungsabläufe ihrer Teams optimieren: Ist die Mauer beim Freistoß optimal positioniert? Mit welchem Teil des Fußes wurde der Elfmeter geschossen; geht das nicht besser? Nun lassen sich schon länger menschliche Abbilder im Rechner erschaffen, aber die Sache hat einen Haken: Man hat sich irgendwann auf 18 eher allgemein verteilte Punkte am Körper festgelegt. Der unterste steht für das Fußgelenk, darunter ist nichts mehr. „Die Ohren sind nicht so interessant, aber Füße wären hierfür schon cool. Also haben wir erweitert, nachtrainiert und so ein fußballspezifisches Skelett geschaffen, das die gestellten Fragen beantworten kann.“
Auch bei der mentalen Vorbereitung auf sportliche Herausforderungen kann KI unterstützen: Gerade im Profisport ist die Psyche entscheidend, denn irgendwann ist das Limit für körperliches Training erreicht. Mentalcoaches sollen helfen, und eines ihrer Ziele ist es, den einen Moment zu identifizieren, ab dem man verliert. „Bleiben wir beim Fußball. Nach dem 1:0 in der 10. Minute hat man noch nicht verloren, aber auch nicht erst in der 90.“, erklärt Meyer. „Irgendwo dazwischen ist der Kipppunkt.“ Dabei geht es um Emotionserkennung, um minimale Gesten – wenn zum Beispiel die Schultern ein halbes Grad nach unten sacken. „Diese Veränderungen sind zu subtil für unsere Augen. Wenn wir sehen, dass jemand aufgibt, weiß KI das schon lange.“ Momentan arbeiten sie mit Profis aus Fußball und Tennis zusammen, die ihren persönlichen Kipppunkt erkennen und daran arbeiten wollen.
Zum dritten Mal Hustenstiller? Eher nicht.
Auch Versicherungen gehören zu den Kunden des noch jungen Start-ups, und hier geht es vor allem um eines: Betrug. Es gibt Me- dikamente, deren Abgabe streng kontrolliert werden muss, weil sie abhängig machen, wie es zum Beispiel bei einigen Hustenstillern der Fall ist. Oder Substanzen wie Steroide, die im Bodybuilding missbraucht werden können – da ist schnell ein Rezept gefälscht.
„Eine große Herausforderung liegt in den unendlich vielen Kombinationen von Erkrankungen, die es geben kann“, erklärt der Informatiker. Eine Therapie sollte zur Krankenakte passen: Wer ein HIV-Medikament erhält, dürfte eine entsprechende Diagnose in den Unterlagen haben. Dazu kommt: Männer und Frauen werden teilweise unterschiedlich therapiert, einige Krankheiten sind wahrscheinlicher als andere, Medikamente können unterschiedliche Namen haben und trotzdem auf dem gleichen Wirkstoff beruhen. Auch wo die Apotheke in Bezug zum Wohnort liegt, spielt eine Rolle: Wer sich Betäubungsmittel erschleichen will, wird mit seiner Fälschung eher in die Apotheke drei Orte weiter gehen als zur persönlich bekannten Pharmazeutin um die Ecke.
„Diese Erstbewertung durch KI nennt man Dunkelverarbeitung
– gigantische statistische Systeme, die große Wahrscheinlichkeitsverteilungen aufbauen“, so Meyer. „Wenn eine bestimmte Wahrscheinlichkeit unterschritten wird, geht es in die Hellverarbeitung, das heißt, ein Mensch muss draufgucken.“
Eigene Räume hat das Start-up trotz aller Erfolge bisher nicht – die Pandemie setzte andere Prioritäten. Der Umzug nach Essen ist allerdings schon geplant. Vorhersagen, welches Projekt als erstes durch die Tür kommen wird, kann allerdings auch die eigene KI nicht.