Klinkenputzen für die Wissenschaft
Wie wählen Deutsche mit familiärer Migrationsgeschichte? Darüber ist wenig bekannt. Ein Team um Politikwissenschaftler Prof. Dr. Achim Goerres ist dabei, das zu ändern. Ein Gespräch.
Herr Goerres, an Wahlstudien mangelt es nicht, wo ist das Problem?
Obwohl Zuwanderung eine der großen gesellschaftlichen Veränderungen in Europa ist, sind Studien zu Wählenden mit Migrationshintergrund in fast allen Ländern rar. In Deutschland wird sich zwar mit verschiedenen Migrationsgruppen befasst, aber nicht, um deren Wahlverhalten zu erklären. Da waren wir 2017 mit der Immigrant German Election Study IMGES die ersten, und 2021 haben wir dann die Folgestudie gemacht. Die Methodik hinter unseren Erhebungen ist technisch kompliziert, aufwändig und teuer.
Was ist das Besondere an dieser zweiten Studie?
Wir haben die Studie zur Bundestagswahl nicht mehr bundesweit, sondern stellvertretend in Duisburg durchgeführt. Die 1.500 Teilnehmenden aus diesen vier Gruppen wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt: deutsche Wahlberechtigte ohne Migrationshintergrund, Türkeistämmige, Russlanddeutsche sowie Menschen mit einem anderen Migrationshintergrund. Niemand hat sich selbst gemeldet teilzunehmen, wie bei den minderwertigen Umfragen, die leider viel zu viel Medienecho bekommen. Wir sind wochenlang von Tür zu Tür gezogen, um die, die ausgewählt waren, zum Mitmachen zu motivieren. Weil wir alle mehrfach befragt haben, durch den ganzen Wahlkampf 2021 hindurch bis in den November und das während des Corona-Lockdowns, können Sie sich vorstellen, was uns das an Kraft gekostet hat.
Warum Duisburg?
Für ganz Deutschland wäre unser Vorgehen nicht umsetzbar gewesen. Wir brauchten also eine Stadt, in der schon Realität ist, was für andere Kommunen und Landkreise in fünf bis zehn Jahren gelten wird. Duisburg ist der Prototyp der modernen Großstadt: divers, ungleich, demokratisch. Es gibt auf einer relativ kleinen Fläche sehr unterschiedliche Lebenswelten: Schauen Sie etwa in den gut situierten Stadtteil Baerl und vergleichen ihn mit Obermarxloh. Armut und andere sozial isolierende Faktoren variieren massiv. Ebenso die Wahlbeteiligung, die kann zwischen 80 und 50 Prozent je nach Stadtteil liegen. Außerdem gibt es diese Herkunfts-Heterogenität: 20 Prozent der Duisburger Wähler:innen haben ihre Wurzeln in anderen Ländern, diese Zahl wird wachsen. Denn in den Kindergärten hat die Hälfte der Jungen und Mädchen einen Migrationshintergrund. Duisburg ist somit ein Frontrunner einer Entwicklung, die uns interessieren muss, nicht nur in der Wahlforschung.
Weil wir vor Ort waren, konnten wir u.a. detailliert analysieren, welche Rolle das soziale und politische Umfeld der Befragten für ihre Stimmabgabe spielte. Wir konnten die vier befragten Gruppen genauer betrachten: Etwa schauen, ob Türkeistämmige aus ärmeren Vierteln politischer sind als Türkeistämmige in reicheren Gegenden. Wir konnten erheben, was die Medien über die Duisburger Politik berichteten, wie der Wahlkampf stattfand in den 46 Vierteln, und vieles mehr. Wir haben dadurch einen unheimlich reichen und sehr ungewöhnlichen Datensatz, den wir uns nach und nach erarbeiten. Auch mithilfe von Big Data-Methoden.
Russlanddeutsche wählen CDU, Türkeistämmige SPD. Stimmt das noch?
Nein, dieses Muster, das Jahrzehnte galt, ist überholt. Die meisten Menschen aus diesen beiden Gruppen sind schon lange hier; über die Generationen hinweg haben sich die alten Parteipräferenzen abgeschliffen und sich denen von Deutschen ohne Zuwanderungsgeschichte angeglichen. Auch die Wahlbeteiligung ist nur noch geringfügig niedriger. Die meisten Wähler:innen mit ausländischen Wurzeln fühlen sich zugehörig zu Deutschland und sind zufrieden mit der Demokratie. Die These, dass sie die Institutionen der Politik nicht als die ihren anerkennen, sehen wir entkräftet. Ebenso die in den Medien stark verbreitete Überspitzung, die AfD sei die Partei der Russlanddeutschen.
Wenn sich das Wahlverhalten nicht mehr am Migrationshintergrund festmachen lässt – was ist entscheidend?
Es ist der mobilisierende Effekt im Elternhaus. Wir haben erhoben, wie die Befragten in Bezug auf Politik aufgewachsen sind, welchen Bildungsgrad ihre Eltern haben, seit wann diese eingebürgert sind und ob sie dann ihr Wahlrecht wahrgenommen haben. Der Mechanismus ist bei allen – egal welcher Herkunft – derselbe: Wenn Jugendliche erleben, dass bei ihnen zu Hause viel über Wahlen gesprochen wird, geben sie später deutlich eher selbst ihre Stimme ab.
Was muss sich ändern?
Die Wahlbeteiligung geht insgesamt zurück. Das ist nicht gut für die Demokratie, denn Wahlen werden so immer weniger repräsentativ. Die Frage ist: Wie kriegt man die Menschen dazu, ihr Kreuz zu machen? Indem man die Erstwählenden stärker anspricht. Indem man die Wahlbenachrichtigung anders formuliert – warum muss die eigentlich wie ein Gebührenbescheid klingen? Indem man gezielt an die Stimmabgabe erinnert wie in anderen Ländern, mehrsprachig informiert und die Briefwahl vereinfacht. Diese wird nämlich seltener von Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte genutzt. Kurzum: Wir müssen Wahlen zugänglicher machen. Denn mit den Vorgängen nicht vertraut zu sein, schreckt ab.
„Warum muss die Wahlbenachrichtigung eigentlich wie ein Gebührenbescheid klingen?“
Was untersuchen Sie gerade?
Da gibt es einiges. Wir analysieren beispielsweise, welche politischen Informationen die Befragten unserer Studie konsumiert haben. Wir schauen, ob die Intensität des Wahlkampfes mobilisiert hat. Denn es kann ja sein, dass die niedrigere Wahlbeteiligung in bestimmten Stadtteilen damit zusammenhängt, dass sich dort keine Partei hat blicken lassen oder Parteien gerade dort viel unterwegs waren. Nach unseren bisherigen Analysen war Duisburg zur Bundestagswahl 2021 ein Thermometer für das ganze Land. Und das ist mit Blick auf 2025 spannend.
Wann wollen Sie fertig sein?
Die komplette Auswertung wird uns sicher bis Ende 2024 beschäftigen.
Das Gespräch führte Ulrike Bohnsack.
IMMIGRANT GERMAN ELECTION STUDY (IMGES)
Diese zwei Studien sind ein Novum, befand auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft: Sie sind die ersten, die aufgrund hochwertiger Daten präzise Aussagen zum Wahlverhalten von Deutschen mit familiärer Migrations-geschichte bei Bundestagswahlen machen. Als familiäre Migrationsgeschichte gilt, wenn jemand selbst oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde. IMGES I wurde bundesweit 2017 durchgeführt, IMGES II durch das andere Forschungsdesign als Panel-Studie von Mai bis November 2021 stellvertretend in Duisburg.
Achim Goerres ist Professor für Empirische Politikwissenschaften. Beide Erhebungen hat er mit seinem Mitarbeiter Jonas Elis und Prof. Dr. Dennis C. Spies (Düsseldorf, 2021 verstorben) und Prof. Dr. Sabrina J. Mayer (vormals UDE, jetzt Bamberg) realisiert. Die DFG-Förderung läuft noch bis 2024.
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