Wissen zwischen Buchdeckeln
Wer forscht, publiziert. Wir stellen eine kleine Auswahl an neuen Fachbüchern vor.
Klingt utopisch, ist auch so gemeint
Alle Menschen sollen überall hinreisen dürfen, um zu arbeiten und zu leben, wo es ihnen gefällt – es sei denn, Ausnahmesituationen machen es nötig, den Grenzübertritt für eine gewisse Zeit zu beschränken. Knapp zusammengefasst ist das die Forderung des Politikwissenschaftlers Prof. Volker Heins, die er auf 224 Seiten verständlich beschreibt und begründet.
Seine These: Nicht die Öffnung, sondern die dauerhafte Schließung der Grenzen ist illusorisch, für Betroffene oft lebensgefährlich und geht auch in den sich abschottenden Ländern mit einem Verlust an Freiheit einher. Das Grundbedürfnis von Menschen, Grenzen zu überwinden, lasse sich in modernen Staaten nur mit massiver Gewalt unterdrücken. Dabei richtet sich der Experte für Migration, Exil und Demokratie gegen den „Fetisch der Nation“, nicht aber gegen Existenz und Unabhängigkeit von Staaten:
„So könnten zum Beispiel Visa-Erleichterungen in Aussicht gestellt, aber auch verweigert werden, wenn sich ein Staat feindselig gegenüber einem anderen oder Teilen seiner Bevölkerung verhält“, erklärt Heins.
Aus seinem Werk, das für den NDR-Sachbuchpreis 2021 nominiert war, spricht die Überzeugung, dass globale Bewegungsfreiheit die Basis für eine stabile und gerechte Weltordnung ist. Kritik von rechts hält er entgegen, dass sie Rassismus als vermeintlich normale, vorhersehbare Reaktion auf Migration darstellt und damit legitimiert.
Warum ist diese Utopie notwendig? „Weil die Welt so, wie sie derzeit ist, nicht akzeptabel ist.“
Volker Heins:
Offene Grenzen für alle: Eine notwendige Utopie
ISBN: 978-3-455-01067-1
Entdecker ohne Vorurteile
Er war einer der bedeutendsten europäischen Afrikaforscher, ist als solcher aber wenig bekannt: Heinrich Barth (1821–65). Seine große Reise führte ihn von 1849 bis 1855 fünfeinhalb Jahre durch West- und Zentralafrika, vom Tschadsee bis nach Timbuktu. In seiner Biographie beschreibt der Historiker Prof. Christoph Marx das Leben eines großen Entdeckers und Forschers des 19. Jahrhunderts. „Als Reisender zeigte Barth ein für Europäer außergewöhnliches Maß an Interesse an den afrikanischen Kulturen. Sein Blick war dabei ungetrübt von imperialistischen und rassistischen Sichtweisen, die so häufig die Entdecker und Eroberer des heraufkommenden Kolonialzeitalters kennzeichneten.“
Seine außergewöhnliche Sprachbegabung ermöglichte Barth den direkten Austausch mit afrikanischen Gelehrten. Sein Reisebericht ist bis heute eine der wichtigsten Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westafrikas. Barth unternahm außerdem zahlreiche Expeditionen in den Mittelmeerraum, dessen geographische Erforschung sein zweites großes Thema war. Seine Reisen führten ihn hier von Marokko im Westen bis in die heutige Türkei im Osten.
Der Autor zeichnet das umfassende Bild eines Mannes, der bahnbrechend als Geograph, Historiker und Ethnologe wirkte und bis heute ein Vorbild für eine Wissenschaft ohne Vorurteile ist. Nur wegen seines frühen Todes erhielt Barth nicht die Anerkennung, die ihm gebührt hätte.
Christoph Marx:
Von Berlin nach Timbuktu.
Der Afrikaforscher Heinrich Barth
ISBN 978-3-8353-5009-0
Nicht alles glauben, was man denkt
„Es kann nicht schaden, Lernstile im Unterricht zu berücksichtigen“ – die meisten Lehrkräfte zweifeln daran nicht. Wissenschaftlich bewiesen sind diese Glaubenssätze jedoch nicht, im Gegenteil: „Sie sind bereits widerlegt, halten sich aber hartnäckig“, so Prof. Gisela Steins. Grund genug für die Psychologin und vier Kolleg:innen, ein Buch über das Thema herauszugeben.
Auf 234 Seiten sammeln die Bildungswissenschaftler:innen gefühlte Wahrheiten, die, obwohl sie erwiesenermaßen falsch sind, beibehalten und weiterverbreitet werden – auch in der Wissenschaft. In elf Beiträgen, die auf aktueller psychologischer Forschung beruhen, werden Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht beleuchtet. Wie entstehen sie, und wie lassen sie sich verändern?
„Fehlvorstellungen sind problematisch, da sie u.a. zu sozialen Stigmata, ungerechtfertigter Kritik und auch Diskriminierung führen können. Aber besonders schwierig dürfte es sein, wenn sie von Expert:innen geteilt und weiterverbreitet werden“, so Steins. Wenn beispielsweise viele Menschen dem Irrtum unterliegen, dass hochbegabte Kinder in der Regel auch sozial auffällig seien, dürfte dies weniger problematisch sein, als wenn diese Überzeugung bei Lehrkräften vorherrscht. „Aufklärung ist wichtig, sie allein reicht aber nicht aus. Stattdessen müssen wir die Mythen beim Namen nennen und stringent widerlegen.“ Diese Methode verfolgt der vorliegende Band, der sich besonders an Erziehende und Pädagog:innen richtet.
Gisela Steins, Birgit Spinath, Stephan Dutke, Marcus Roth, Maria Limbourg (Hrsg.): Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht
ISBN: 978-3-658-36259-1
Erlesener Trost
Eins vorweg: Nein, es ist kein Selbsthilfebuch, auch wenn der Titel „Trost. Vier Übungen“ es vermuten lässt. Vielmehr geht es der Kulturwissenschaftlerin Dr. Hanna Engelmeier in ihren vier Kapiteln darum, sich dem Phänomen „Trost“ in der Gegenwartsliteratur zu nähern – mit Verweisen, wie etwa Rainer Maria Rilke, Cheryl Strayed, Adorno oder David Foster Wallace das Thema angegangen sind und sie, die Autorin, selbst beeinflussten. Dabei stellt Engelmeier auf den 198 Seiten immer eine Frage in den Fokus, die bis dato in der Forschung kaum Beachtung fand: Wie spenden Lesen und Literatur Trost? Dass es dafür nicht eine Antwort, sondern viele gibt, zeigt sie in ihrer Gegenüberstellung der einzelnen Schriftsteller:innen, aber auch Gattungen auf. Zwischen klassischen Werken geht sie auch auf Johanna-von-Or- léans-Comics, Gebete oder das Hörspiel zu Walt Disneys „Aristocats“ ein.
Engelmeier lässt mal auf nachdenkliche, mal auf humorvolle Weise Genres verschmelzen – auf literarische und popkulturelle Quellen folgen wissenschaftliche Theorien und autobiographisches Erzählen. Das Buch stellt damit auch den Versuch dar, Konventionen akademischen Schreibens zu erweitern oder zu überschreiten. Ausgezeichnet wurde die Autorin dafür unter anderem mit dem Clemens-Brentano-Preis 2022.
Trost ist für Engelmeier eine Selbsttechnik, mit der Kummer geschrumpft und unlösbare Probleme zumindest momentan aus- haltbar werden. „Trost gibt man sich selbst und spendet ihn anderen auch – auch mit Hilfe sprachlicher Ästhetik. Darum ging es mir im Buch.“
Hanna Engelmeier: Trost. Vier Übungen
ISBN: 978-3-7518-0056-3
Die Meinungsmacher
Attac, LobbyControl, Foodwatch, Campact, Deutsche Umweltstiftung: Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben Einfluss. Zu viel, kritisieren zuweilen Parteien und Wirtschaft. Und obwohl diese Organisationen wichtige Aufgaben in einer offenen Gesellschaft haben, hat die Forschung sie bislang vernachlässigt. Nun lässt sich auf 145 Seiten nachlesen, wie NGOs handeln und entscheiden, um sich politisch einzumischen. Politikwissenschaftler Dr. Maximilian Schiffers hat hierfür die eingangs genannten NGOs verglichen. „Die Fünf verbindet, dass sie sich an der Kampagne Europäische Initiative gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA beteiligt hatten. Ansonsten sind sie völlig anders organisiert und strategisch unterschiedlich ausgerichtet.“
Schiffers sortiert nach Mitglieder-, Expertise-, Kampagnen- bzw. Plattform-NGO. Er analysiert die Fünf anhand der Kategorien Unterstützung, Einfluss und Reputation. Und er ordnet ein, wie sie in ihrer Lobbyarbeit agieren. Die einen knüpfen enge, direkte Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern, etwa im Parlament oder im Ministerium. Die anderen setzen auf die Medien und die Bevölkerung, um Anliegen indirekt zu artikulieren und Unterstützung zu mobilisieren. Teilweise werden beide Strategien kombiniert.
Was die verschiedenen NGOs laut Schiffers eint: „Um ihre Ziele zu erreichen, spielen sie auf den drei Bühnen: Basis, Politik, Medien.“
Maximilian Schiffers:
NGOs als besondere Akteure der Interessenvermittlung
eBook ISBN: 978-3-658-34851-9
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